Was bei Autismus wirklich hilft

Der US-amerikanische Gesundheitsminister schwurbelt über die Ursachen und Heilung von Autismus. Eine Klarstellung:

Mit dem Elefanten im Raum, reden wir doch mal über Autismus!

Zu Beginn einige wichtige Klarstellungen.

Der durch zahlreiche wissenschaftliche Studien belegte Stand der Forschung zeigt:

  •     Autismus hat genetische Ursachen.
  •     Autismus ist nicht heilbar.
  •     Impfungen verursachen keinen Autismus.
  •     Darüber hinaus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Stigmatisierung gut getesteter Medikamente – etwa Schmerzmittel in der Schwangerschaft – unbegründet und problematisch ist. Historisch betrachtet wurden Müttern immer wieder fälschlicherweise Schuldzuweisungen gemacht; dieses Muster gilt es zu durchbrechen.

Der erste Schritt ist, sich über den aktuellen wissenschaftlichen Wissensstand zu informieren.

Das Autismus-Spektrum

Das Autismus-Spektrum hat keinen linearen Verlauf von ,,low-functioning” Autismus zu ,,high-functioning” Autismus, sondern ein zirkuläres Spektrum mit verschiedenen Variationen in Bezug auf Kookkurrenzen, Kommunikation, Stimming, nonverbale Kommunikation und viele weitere Aspekte. Die Kategorisierung erfolgt in der Regel auf Kookkurrenzen, wie Sprach- oder Intelligenzbeeinträchtigungen, die mit Autismus einhergehen können und den Unterstützungsbedarf der Person erhöhen oder verringern können. Sie erfolgt nicht auf der Grundlage der autistischen Merkmale der Person. Sie schafft ein defizitorientiertes Bild, in dem die Fähigkeiten von ,,low- functioning” Personen oft übersehen und die Bedürfnisse von ,,high-functioning” Personen gemindert werden. Die Bedürfnisse und Stärken jedes autistischen Individuums müssen erkannt und unterstützt werden, um Potentiale zu entfalten.

Medizinisches vs. Soziales Modell der Behinderung

Das medizinische Modell der Behinderung betrachtet Behinderung als eine Beeinträchtigung oder Defizite der autistischen Person, wobei das Hauptziel darin besteht, die Eigenschaften des Autismus zu „heilen“ oder zu verringern. Im Gegensatz dazu sieht das soziale Modell der Behinderung diese als Ergebnis gesellschaftlicher Ausgrenzung, sowie mangelnder Zugänglichkeit und Inklusion. Das Hauptziel besteht darin, die Gesellschaft zu verändern, um Gleichheit und Gerechtigkeit im Zugang für autistische Menschen zu gewährleisten. Das soziale Modell der Behinderung bejaht, im Gegensatz zu dem medizinischen Modell, dass Behinderung nicht im Individuum selbst liegt, sondern das Ergebnis einer Gesellschaft ist, die den unterschiedlichen Bedürfnissen nicht gerecht wird. Dieses Modell argumentiert, dass gesellschaftliche Barrieren wie physische Unzugänglichkeit, soziale Einstellungen und fehlende Unterstützungsstrukturen, die eigentlichen Ursachen von Behinderung sind, nicht die Unterschiede selbst. Das bedeutet nicht, dass Gesundheitsdienste nicht benötigt werden, sondern dass die Medikalisierung und Pathologisierung von Autismus oder Behinderung zu schädlichen Stigmatisierungen und Missverständnissen führt.

Inklusion ist kein Wunsch, sondern Menschenrecht

Behinderung ist ein natürlicher Teil der menschlichen Vielfalt. Menschen mit Behinderungen haben – in allen Formen – das Recht auf Respekt und Unterstützung. Das bedeutet: Sie haben die gleichen grundlegenden Rechte wie alle anderen. Behinderung darf niemals ein Grund sein, ihnen Rechte zu verweigern oder einzuschränken.

Mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) wurde genau festgelegt: Inklusion ist ein Menschenrecht. Staaten verpflichten sich damit, Hindernisse abzubauen und Barrieren zu beseitigen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt teilhaben können.

Neurodiversität

Der Begriff ,,Neurodiversität” wurde innerhalb der Online-Community entwickelt und 1998 von der autistischen australischen Soziologin und Aktivistin Judy Singer bekannt gemacht[3] . Neurodiversität klassifiziert bestimmte neuro-entwicklungsbedingte Zustände als natürliche Variationen menschlicher Vielfalt, ähnlich wie Unterschiede bei der Hautfarbe oder beim Geschlecht. So wie es unterschiedliche physische Merkmale wie Augenfarbe und Haarfarbe gibt, existieren auch verschiedene Gehirne und neurologische Veranlagungen, die kognitive, affektive und perzeptive Funktionen umfassen.

Im Kontext der Neurodiversität bewertet diese Perspektive neurologische Unterschiede, wie sie bei Autismus oder ADHS auftreten, als Teil des reichen Spektrums menschlicher Vielfalt neu. Anstatt diese Unterschiede als Defizite zu betrachten, die als Abweichungen angesehen werden und korrigiert werden müssen, betont das soziale Modell, dass neurodivergente Personen unterschiedliche Denkweisen, Informationsverarbeitungen und Interaktionen mit der Welt haben. Diese Unterschiede werden NICHT als Defizite, sondern als Variationen angesehen, die zur Gesamtheit der menschlichen Vielfalt beitragen.

Gesellschaften profitieren von Vielfalt – auch auf neurologischer Ebene. Unterschiedliche Denkweisen, Wahrnehmungsformen und Problemlösungsstrategien führen zu Innovation, Kreativität und einer breiteren Perspektive auf komplexe Themen. Teams und Organisationen, die neurodivergente Menschen einbeziehen, berichten häufig von besseren Lösungen, höherer Empathie und stabileren sozialen Strukturen. Neurodiversität erweitert also nicht nur das Verständnis individueller Unterschiede, sondern stärkt auch die kollektive Intelligenz einer Gemeinschaft. Eine Gesellschaft, die neurodivergente Perspektiven wertschätzt, wird resilienter, empathischer und zukunftsfähiger – weil sie die gesamte Bandbreite menschlichen Potenzials nutzt.

Unterstützung statt Ursachenforschung

Aus diesen Informationen wird deutlich, dass weder die Forschung zu den Ursachen noch die zu „Heilung“ von Nutzen für autistische Menschen sind. Die einfache Lösung – der Verzicht oder die Einnahme einer Pille durch Einzelne – klingt zu schön, um wahr zu sein – und ist es daher auch. Der aufwändigere und zielführendere Weg ist, dass wir alle dafür verantwortlich sind, neurodivergente Menschen in die Mitte der Gesellschaft zu inkludieren.

Vom Wissen zum Handeln:

Vielfalt schätzen

Aus dem sozialen Modell folgt die Aufgabe, ein inklusives Umfeld zu gestalten, das unterschiedliche neurokognitive Stile berücksichtigt und wertschätzt. SAnstatt neurodivergente Menschen an enge, künstlich geschaffene, neuronormative Standards anzupassen, muss die Gesellschaft ihre Strukturen, Politiken und Einstellungen so verändern, dass sie Vielfalt unterstützt. Die Annahme von Neurodiversität bedeutet, Stärken und Fähigkeiten verschiedener Denkweisen zu erkennen und Umgebungen zu schaffen, in denen alle ihr Potenzial entfalten können.


Inklusion statt wiederholter Ursachen-Forschung

Dies gelingt durch die gezielte Förderung von Barrierefreiheit und Inklusion – etwa mit sensorisch freundlichen Räumen, klarer Kommunikation, vorhersehbaren Routinen und Anti-Mobbing-Strategien, besonders in Schulen. Kreative Lösungen wie Halbtempojobs statt Halbtagsjobs, Sensibilisierungsschulungen, mehrkanaligen Infos und gelebter Fehlerkultur lassen sichere, akzeptierende Umgebungen entstehen, die Teilhabe für alle ermöglichen. Gemeinschaften, die Empathie fördern, Ressourcen bereitstellen und offene Kommunikation ermöglichen, tragen dazu bei, dass autistische Menschen geschätzt und unterstützt werden – und verbessern zugleich die Lebensqualität aller Menschen.

geschrieben von Vera

Vera versucht, vorauszudenken, und will die Welt mit Worten verändern. Sie hat sich für den Verein vordergründig vorgenommen, in der Gesellschaft Verständnis zu wecken und in vielfältigen Varianten vorausschauend zu wirken. Ob es darum geht, Veranstaltungsberichte zu vervollständigen oder notwendigen Veränderungsbedarf zu veranschaulichen – sie fühlt sich in Wortwolken vollkommen wohl.

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